Am Wochenende erreichte uns die Nachricht vom endgültigen
"Schliessen der Tore" der US-amerikanischen Gesellschaft für Intersexuelle, die 1993 von Cheryl Chase (heute weiss herm, dies war ein Pseudonym von Bo Laurent) ins Leben gerufen wurde, um nun von der gleichen Person zu Grabe getragen zu werden.
Der Paradigmenwechsel bei ISNA begann wohl schon weit vor dem Consensus Treffen in 2005, an dem u.a. Cheryl Chase und eine internationale Gruppe von Wissenschaftler_innen, Mediziner_innen und Psycholog_innen beteiligt waren. Dort wurde die Einführung des Konzeptes der "Störungen der Geschlechtsentwicklung", kurz DSD (Disorders of Sexual Development) beschlossen. Das Ergebnis dieses Consensus Treffens verursachte einen großen Aufschrei innerhalb der Community und bedeutete für uns WELTWEIT, die sich für eine gesellschaftliche Akzeptanz und Aufklärung einsetzen, einen gewaltigen Rückschlag.
Wie konnte es passieren dass eine
grassroots-Organisation, die "von und für" intergeschlechtliche Menschen gegründet wurde und sich dem Kampf gegen die kulturelle Vorstellung der zwei Geschlechter widmete, in einem Zeitraum von 15 Jahren in einer Allianz aufgeht, deren primäres Ziel es ist, eine Kollaboration zwischen Wissenschaftlern, Medizinern und Psychologen und Menschen mit "Störungen der Geschlechtsentwicklung" (DSD) und deren Angehörige zu erleichtern?
Diese und andere Fragen stellen sich sicherlich nun auch im deutschsprachigen Raum, für den ISNA in vielen Fällen auch eine Negativ-Folie war und ein Beispiel dafür, in welche Richtung es vielleicht besser nicht gehen sollte.
In ihrer "Abschiedsnachricht" macht ISNA deutlich, dass diese erstrebte Zusammenarbeit mit DSD-Spezialisten nur erfolgreich sein kann, wenn ISNA ihren Aktivistenballast (und offenbar die dazugehörigen Aktivist_innen) hinter sich lässt, um von den neuen Wunschpartnern ernst genommen zu werden. Eine neue Organisation musste her:
Accord Alliance.
Seit spätestens 2004 propagierte ISNA die Meinung, der gesellschaftliche Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen hätte nichts mit Gender zu tun: die Frage, wie wir in unserer Kultur ein Zwei-Geschlechter-System aufrecht erhalten und ständig untermauern müssen, in dem unser Ausdruck von Geschlecht (gender expression) in Übereinstimmung sein muss mit unseren körperlichen Konstitutionen, und desweiteren unsere geschlechtliche Identitäten, sexuelle Orientierungen, und ebenso unsere Körper an einer Hetero-Norm gemessen werden.
ISNA distanzierte sich somit schon früh von jenen Aktivist_innen, die sich für ein drittes Geschlecht, oder für die Abschaffung von Geschlecht einsetzten und verwob die praktische Frage nach einer Geschlechtszuweisung intergeschlechtlicher Kinder mit der Kritik an einer binär-normierenden Kultur.
Dieses gravierende (und strategische) Missverstehen von gesellschaftlichen Forderungen nach einer kritischen Selbstreflektion der Geschlechterverhältnisse und deren direkter Zusammenhang mit dem Konstruieren der "Störung der Geschlechtsentwicklung" zeigte schon den Weg auf, den ISNA nun beendet hat.
In der neu gegründeten Allianz ist keine Rede mehr "von und für" intergeschlechtliche Menschen da zu sein, sondern was bleibt ist pures DSD - die Störungen haben ein neues Zuhause gefunden.
Nikanj - 30. Jun, 14:26